Freitag, 12. Oktober 2012

Die Zukunft im Heute denken

Wie können wir die Zukunft im Heute denken? Das interessiert mich auf (mindestens) drei Ebenen:
- Wie kann man den Prozess einer kommunale Schulentwicklung so gestalten, dass in wertschätzender Weise all das, was ist - und gut ist, gut gemacht wird - aufgenommen wird und darin - bei den Akteuren -  jeweils die Impulse aufnimmt für mutige, authentische Schritte in eine Zukunft des Lernens, das eben auch ein Lernen für eine offene Zukunft ist?
- Wie kann ich konkret meinen Schülern Instrumente zur Orientierung anbieten, die in der Phase des Übergangs von der Schule "hinaus" ins Leben hilfreich sein können?
- Wie kann ich für mich persönlich, bei Alltagsproblemen und Fragen der Lebensgestaltung,  lernen, Lösungsansätze in der Gegenwart besser, schneller und genauer zu erspüren, also kürzer in Problemtrancen zu verharren?

 "Presencing" ist eine Methode, die sich in diesem Zusammenhang interessant anhört. Presencing ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus "present" - Gegenwart - und "sensing" - Spüren. Dabei geht es darum, einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit  zu erreichen, der es Individuen und Gruppen ermöglicht, "to shift the inner place from which they function" - also, innerlich einen neuen Standpunkt einzunehmen, von dem aus sie ihre Welt, ihr Problem, ihre Alltagsroutinen, ihre blinden Flecken beleuchten können. Im Prinzip ist das genau dieser Moment, der passiert, wenn wir mit den Streichhölzern in der Ebene nicht mehr weiterkommen, erkennen, das wir für die Lösung den Raum brauchen, auf einmal ganz schnell die Lösung haben, und im Nachhinein feststellen, dass wir die Streichhölzer zunächst ja schon vertikal , in den Raum reichend, in der Hand hatten - aber routinemäßig von unserem blinden Fleck ausgegangen waren, also,  mit den Streichhölzer auf dem Tisch herumspielten.

Presencing gehört zu der "Theory of U", die Otto Scharmer, ein Dozent am MIT (Massachussetts Institute of Technology) entwickelt hat und in der Unternehmensberatung einsetzt.
Auf seiner Webseite bietet er großzügig seine Werkzeuge zum Download an.

Unter den Projekten, die sich auf seiner Seite präsentieren, ist auch ein spannender Film von einem Learning Lab der Universität Amsterdam: Eine Gruppe von - ja, Elitestudenten - lässt sich auf einen Pioneers Workshop ein, bei dem sie allerhand Selbst-, Gruppen- und Projekterfahrung sammeln und schließlich ihr weiteres Lernen selbst in die Hand nehmen. Beim ersten Treffen werden sie nachts, mit Taschenlampen, auf den Friedhof geschickt - ohne Agenda, ohne Aufgabe, einfach mit der Vorgabe: Hier ist soviel Zeit, hier ist ein Ort. Jetzt tut, was ihr wollt. Und schon findet Lernen statt! Natürlich ist der Friedhof ein hochsymbolischer Ort, so liegen Beschreibungen wie "man muss vom Ende her Denken", "Die Zeit ist knapp", "Man weiß nicht, wie die nächste Phase aussieht", "Ich habe darüber nachgedacht, was auf meinem Grabstein stehen soll" nahe. Einmal kommt der Dozent nicht zum Treffen - und nach 30 Minuten Plauderei fangen die Studenten an, sich darüber auszutauschen, was sie eigentlich machen wollen, und starten allerhand Projektideen, so dass sich der Dozent, als er endlich sehr verspätet eintrifft, im Sessel zurücklehnen kann. Ob die Projekte - ein Wasserstofftaxiservice, eine Webseite für gute Taten - wirklich die Welt verändern, ist nicht so wichtig, aber auf dem Weg dorthin, haben die Studenten sich mit allen Sinnen gespürt und sich auf vielen Ebenen neu erlebt (einen Mentor finden, vor einer Gruppe von Professoren sprechen, eine Diskussion leiten, Begeisterung und das Abflauen von Begeisterung erleben). Auf den letzten Bildern planen sie, wie sie im nächsten Semester weitermachen wollen. Einer schlägt eine schriftliche Prüfung vor, damit sie auch die Theorie bearbeiten. Dagegen viele Stimmen: Nein, dieser Kurs ist gerade darüber, dass wir keine schriftliche Prüfung brauchen.

Dieser Film zeigt deutlich, dass es wirklich gar nicht so sehr darum geht, gute neue Ideen zu haben - die gibt es haufenweise, überall, und wenn nicht, sind sie schnell entwickelt - sondern darum, alle Beteiligten, Lernenden in einen Prozess mitzunehmen, der es jedem Einzelnen ermöglicht, sich in einer Gruppe mit seinen stärksten Motivationsimpulsen einzubringen. Wenn das gelingt, überträgt sich diese gute Energie auf das Gesamte, die Summe ist dann viel, viel mehr als alle ihre Teile.

Warum gönnen wir uns das eigentlich nicht öfters?